Autor: Markus Frutig | Geschäftsführer Inoveris 

«Die Berufsbilder werden sich ändern»

Vom 30. bis 31. März 2022 findet in der BERNEXPO wieder der nationale Branchentreffpunkt LOGISTICS & AUTOMATION 2022 mit dem Sonderfeature TRANSPORT & DELIVERY statt. 85 Aussteller und Speditionen aus der ganzen Schweiz zeigen ihre Angebotspalette und präsentieren auch neueste Lösungen für den Gütertransport sowie die Intralogistik. Im ILS-Roundtable-Gespräch zum Thema «Wie sieht das Warenlager der Zukunft aus?» gibt Peter Spycher, Director Business Development bei Vanderlande Industries GmbH & Co. KG, aktuelle Einblicke in die Herausforderungen für die Intralogistikbranche.

Thema «Digitalisierung & Technologie»

Die Ansprüche an die Lagerlogistik sind in den letzten Jahren gestiegen: Der Onlinehandel verzeichnet stetig Zuwächse, und die Verbraucher erwarten eine schnelle und reibungslose Warenlieferung – oftmals weltweit. Auch im B2B-Bereich müssen Bestellungen immer schneller abgewickelt werden. Um mit der Konkurrenz mithalten zu können, ist eine effiziente, kostengünstige und fehlerfreie Lagerlogistik enorm wichtig. Demnach bilden digitale Prozesse innerhalb des Lagers einen wichtigen Baustein für eine zukunftsfähige Unternehmensstrategie. Doch auch schon heute existieren zahlreiche Möglichkeiten für eine digitale Prozessoptimierung innerhalb des Lagers.

Herr Spycher, welche Vorteile sehen Sie in der Entwicklung der Digitalisierung von Warenlagern? Und welchen Einfluss hat diese auf die Effizienz in der Abwicklung von Warenlieferungen oder beim Personalbedarf?
Peter Spycher: Die Digitalisierung hilft gerade auch beim Personalbedarf, denn die ganze Technik wird intelligenter, und damit weiss ich sofort, wo Engpässe oder Probleme entstehen könnten. Damit werden Fehler schneller eliminiert, und die Anlage hat eine höhere Verfügbarkeit. Auf der anderen Seite hilft es auch, die Waren entsprechend besser zu platzieren, wenn ich automatisch die Dimensionen und die Gewichte kenne. So kann ich neue Prozesse gestalten, die mir helfen, das Warenlager effizient zu betreiben und auch den Kunden die Ware bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen.

Welche innovativen Technologien werden bereits standardmässig beim Neubau eines Warenlagers umgesetzt? Welche sind nicht mehr wegzudenken? Wie sehen Sie die Stabilität und die Widerstandsfähigkeit dieser Systeme gegenüber Hackerangriffen?
Wir setzen gerade beim Neubau eines Lagers bereits innovative Techniken ein, so dass wir zum Beispiel vor der Installation eine Logistiksystems virtuell durch das Lager und somit durch das System gehen können. Wir zeigen dem Kunden wie das Lager aussieht, bevor es gebaut wird. So werden im Vorfeld die Prozesse gemeinsam verbessert. Wenn das Lager dann realisiert wird, werden in der IT und in der Steuerung die modernsten Komponenten eingesetzt. Die Digitalisierung hilft uns dabei. Es geht auch um die Wartung und Fehleranfälligkeit der Systeme. Mit der Digitalisierung setzt man heute Systeme ein, die Fehler proaktiv erkennen, so dass man agieren und nicht mehr nur reagieren kann. Bezüglich Stabilität und Widerstand gegenüber Hackerangriffen sind die Systeme sehr gut, weil das meistens geschlossene Kreislaufsysteme sind, die nicht extern zur Verfügung stehen, sondern nur für das Lager eingesetzt werden.

Kommt man trotz innovativer Technologien und des Einflusses der Digitalisierung hier irgendwann an eine Kapazitätsgrenze? Oder kann das Zukunftswarenlager den Bedarf des wachsenden Onlinehandels vollständig decken?
Die Kapazitätsgrenze sehe ich eigentlich mehr beim Menschen. Durch die Digitalisierung müssen wir aufpassen, dass wir die Mitarbeitenden nicht überfordern, sondern wir müssen sie abholen, mitnehmen und auch an die neuen Technologien gewöhnen. Die Problematik, die wir heute haben, ist, dass der Trend sehr schnell ist. Da müssen wir unser Augenmerk darauf richten, dass wir die Leute unterwegs nicht verlieren. Zukunftswarenlager, zunehmender Onlinehandel – wie wird der Onlinehandel in Zukunft sein? Das weiss heute niemand. Es gibt ja komplett neue Konzepte, die zum Teil in der Vorbereitung sind, oder zu denen sich kluge Köpfe Gedanken machen. Zum Beispiel in Zürich haben wir den «10-Minuten-Lieferdienst», wo die Produkte innerhalb von zehn Minuten geliefert werden. Das hat einen riesigen Einfluss auf den kompletten stationären wie auch den Onlinehandel. Wenn ich beim Onlineshoppen normalerweise einen Tag auf die Produkte warten muss, dann sind zehn Minuten natürlich ein ganz anderes Kaliber. Auf der anderen Seite ist auch die Frage erlaubt: Brauchen wir das als Kunde?

Wo sehen Sie bestimmte Trends, oder wo geht es hin in der Intralogistik?
Das ist jetzt unsere Sicht, denn wir sind da sozusagen «Dinosaurier». Also wenn ich meinen Sohn frage, sieht er das komplett anders. Es ist nun mal so, wenn der Markt Bedürfnisse schafft, gibt es auch Leute, die das abrufen werden. Und man gewöhnt sich daran. Was momentan passiert, ist, dass wir gemerkt haben, es funktioniert nicht mehr alles wie bisher. Also die Warenverfügbarkeit ist nicht mehr da, und wir haben momentan eine Entschleunigung der Gesellschaft. Wie lange diese anhalten wird, ist fraglich.

Ist besonders für die Schweiz als KMU-Land die Umstellung auf die neuen Technologien und Prozesse eine grosse Herausforderung? Sind kleinere Betriebe überhaupt in der Lage, dem wachsenden Nachfragedruck standzuhalten?
Die kleineren Betriebe haben sicher die gleichen Chancen wie die grossen. Die grossen haben einfach den Vorteil, über mehr Ressourcen zu verfügen. Schlussendlich hängt alles von der Schulausbildung, dem Zugang zur Technologie, dem Willen und dem Personalmarkt ab. Das ist ein Riesenthema, wenn wir als kleines Land mit 8,6 Millionen Einwohnern 5 Millionen Arbeitsplätze zur Verfügung stellen und zu wenig Nachwuchs rekrutieren können. Die Demografie spricht im Moment dagegen, und das wird der Knackpunkt sein.

Wenn Sie sich das ideale Warenlager der Zukunft vorstellen, wie würde das konkret aussehen?
Die Lager müssen flexibel sein, weil eine sehr hohe Dynamik in der Wirtschaft herrscht und wir nicht wissen, wie sich das alles entwickelt. Die Kundenbedürfnisse ändern sich, dazu gibt es auch gesetzliche Restriktionen, die einen Einfluss haben. Zum Beispiel wurden früher im medizinischen Bereich 100 Knochenschrauben für ein Spital bestellt und ab dem Spitallager auf die Stationen verteilt. Heute mit Tarmed muss jede Schraube einzeln bestellt werden, sodass eine Zuweisung und Kostenabrechnung auf den Patienten erfolgen kann.

Deswegen sieht der Lagerprozess nicht mehr so aus, beispielsweise 100 Schrauben auf einmal zu rüsten; die Menge bleibt zwar gleich, aber jede Schraube wird einzeln verpackt und etikettiert und auf die Station geliefert. Hinzu kommt, dass kein Puffer mehr vorhanden ist. Würde die falsche Schraube geliefert, könnte die geplante Operation nicht stattfinden. Das ist dann plötzlich ein anderer Prozess. Der Mensch wird in Zukunft sicher auch weiterhin im Mittelpunkt stehen, weil wir weniger Leute haben, aber dafür hochqualifizierte. Die Systeme werden immer komplexer, und wir müssen in der Ausbildung dafür Sorge tragen, dass wir Mitarbeitende haben, die diese Systeme auch verstehen und bedienen können.

Ist dies die ideale Zukunft, ein Warenlager ohne Menschen? Entstehen dadurch neue Berufsfelder? Und was geschieht mit den bestehenden Berufsbildern innerhalb der Logistikindustrie?
Als global tätiger Konzern verfolgen wir, was weltweit passiert, und haben auch Mitarbeitende, die sich ausschliesslich mit diesen Themen beschäftigen und uns dann die Informationen zur Verfügung stellen. Ich selbst als «Technikfreak» oder für Technik aufgeschlossener Mensch habe meine Bedenken, dass wir Lager ohne Menschen sehen werden. Es gibt zwar heute schon solche Projekte, aber wir haben zahlreiche Techniker im Hintergrund, um die Anlagen am Leben zu halten. Ich sehe es immer noch als einen Vorteil an, dass der Mensch gewisse kognitive Fähigkeiten hat, die wir heute durch Technik noch nicht ersetzen können. Ich finde das auch gut und bin der Meinung, wir sollten so viel Technik einsetzen, wie es sinnvoll ist, und nicht alles, was möglich ist. Die Berufsbilder werden sich ändern.

In Ihrem Verband haben Sie ja dazu ebenfalls Neuheiten – um was handelt es sich dabei?

Ja, beim Verband ILS haben wir eine neue Ausbildung gestartet. In diesem Ausbildungslehrgang werden eine virtuelle Brille und ein VR-Programm eingesetzt. Auch für die automatische Regalprüfung haben wir gewisse Ideen, wie wir neue Techniken einsetzen können, die es in dieser Form noch nicht gibt. Dazu besteht ein weltweiter Markt, da sich noch niemand mit diesem Thema fokussiert auseinandergesetzt hat. Das wird jedoch ein langer Prozess sein, da Anspruch und Wirklichkeit noch nicht übereinstimmen. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass wir da zum Ziel kommen.

So müssen wir uns jederzeit anpassen an die neuen Gegebenheiten, die auf uns zukommen. Das erfahren wir selbst auch in unserem Job. Wenn ich zum Beispiel morgens meinen Laptop einschalte, sieht das von Zeit zu Zeit ganz anders aus als am Abend zuvor, weil unsere IT beispielsweise ein neues Release aufgespielt hat. Mir sagt dann niemand, wie ich damit umgehen soll, und ich muss selbst lernen, wie das Ganze neu zu bedienen ist. Das ist heute Realität. Wir sind vom Gesetz her verpflichtet, die Regale in allen Lagern zu prüfen. Diesen Ausbildungslehrgang gab es bisher nicht, und wir sind da als Verband in die Bresche gesprungen und haben eine Expertenkommission gegründet aus Vertretern von Herstellern, Anwendern und der Suva. Dort definieren wir den Inhalt dieses Lehrgangs für die Bedürfnisse unserer Wirtschaft in der Schweiz und verleihen den Titel «Inspektor ILS mit Zertifikat».

Thema «Instandhaltung & Sicherheit»

Lagerlogistik 4.0 ist ein wichtiger Baustein innerhalb der Logistik 4.0, und es wäre für Unternehmen fatal, den Einstieg in das digitale Warenlager zu verschlafen. Digitale Technologie beschleunigt Prozesse, sorgt für Kostenersparnisse und eine geringere Fehlerquote – Aspekte, die in Zukunft unerlässlich sein werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Liegt die neue Fehlerquote nicht mehr beim Menschen, sondern in einer unzureichenden Instandhaltung der neuen digitalen Technologien und Prozesse?
Ich würde nicht von Fehlern sprechen, sondern davon, dass der Kreativität der Menschen keine Grenzen gesetzt sind. Wenn ich etwas entwickle und programmiere, wird es immer einen Schlaueren geben oder einen, der nicht genau weiss, was ich gemacht habe, und der das System anders bedienen wird, als ich das angedacht habe. Aus diesem Grund werden immer wieder Probleme in den Systemen auftreten. Die neuen digitalen Technologien sind anspruchsvoller und damit auch fehleranfälliger. Also was passiert bei Blitzschlag oder Stromausfall? Erholen sich die Systeme wieder? Es gibt dann Konstellationen, bei denen kein Wiederanlauf möglich ist. Da können wir auch an die Anfänge von Microsoft zurückgehen, Stichwort «Bluescreen». Niemand wusste damals genau, was passierte, plötzlich war der Bildschirm blau. Dann hat es nur noch geholfen, das System runter- und wieder hochzufahren – und dann lief es plötzlich wieder. Aber sagen konnte niemand genau, warum das so war. Die IT erfindet laufend immer wieder etwas Neues. Vor zwei Tagen ist beispielsweise mein Mobiltelefon komplett ausgestiegen, weil ich einen Prozess nicht installiert habe, damit jemand in Holland mein Mobiltelefon verwalten kann. Da war mein ganzes Adressbuch futsch. Das wurde einfach umgestellt, ohne entsprechende Kommunikation. Es sind daher oft nicht nur Fehler oder die Kreativität der Menschen, sondern wir führen neue Themen ein und kommunizieren nicht – irgendjemand leidet dann darunter.

Wie sieht eine fachgerechte Instandhaltung der Zukunft aus? Welche Rolle spielt hier noch der Mensch?
Ich denke, die Zeit ist vorbei, wo wir einfach nur noch Leute hatten, die mit Muskelkraft die Systeme gerichtet haben. Mit einer grünen Logistik versuchen wir, möglichst viele gleiche Komponenten einzubauen und später fachgerecht bei der Entsorgung die Rohstoffe wiederzugewinnen. Und damit werden auch die Wartung und die Lagerhaltung der Ersatzteile einfacher sein. Die Zukunft der Wartung ist sicher, dass ich eine Mechatroniker-Ausbildung habe und damit beide Bereiche – Mechanik und Elektrik – verstehe. Wenn dieser Mitarbeitende sehr gut ist, dann versteht er noch etwas von IT. Aber Menschen in dieser Dreier-Kombination zu finden, das wird schwierig. Mechatroniker ist der Berufszweig, der für die Instandhaltung benötigt wird. Diesem Mitarbeitenden muss man alle Werkzeuge an die Hand geben, damit die richtige Datenauswertung erfolgen kann. Der Trend geht sowieso zu autarken Systemen, bei denen der Mitarbeitende bereits vor Eintreten eines Problems informiert wird, sodass dieser proaktiv handeln kann, damit das Problem gar nicht erst entsteht. Das System sagt also «Hilf mir», und der Mensch hilft – so entstehen keine Problemfälle mehr.

Das weitere grosse Thema ist natürlich die Datenwolke. Wir sind nicht mehr auf einer Insel der Glückseligkeit, sodass wir nur unser System haben, sondern wir ziehen heute alle Daten ab, die wir bekommen. Diese führen wir in die Cloud, mischen alles und werten es so aus, dass es dem Kunden etwas bringt. Dann habe ich Parameter, die ich einstellen kann, und das System informiert mich dann: Hier geht die Lampe bald aus, und dort muss ich mal nachschauen.

Der Kurs Regalexperte/-in ILS Stufe 1 wurde nun mit dem erstmaligen Einsatz der Virtual-Reality(VR)-Brille zukunftsweisend weiterentwickelt. Wieso haben Sie sich für den Einsatz einer VR-Brille entschieden, und welche Vorteile bietet die Kombination von Mensch und Technik?
Diese virtuelle Brille war Neuland in der Ausbildung und wurde meines Wissens vorher noch nie von jemandem eingesetzt. Daher plädiere ich für so viel Technik wie sinnvoll, dafür aber gute. Ich denke, das wird auch die Zukunft sein, dass es eine Kombination zwischen Virtual-Reality-Anwendungen und der Praxis gibt. Dieser erste Kurs lief ganz gut an, und wir haben schon Zusagen für über 160 Personen für 2022. Die Zukunft gehört uns.

Da nennen Sie ja bereits das Schwerpunktthema der LOGISTICS & AUTOMATION: «The Future of Logistics». Wie sehen Sie die Zukunft der Intralogistik in der Schweiz? Wo sehen Sie mögliche Herausforderungen und Chancen?
Wir haben jetzt den Vorteil, dass die breite Bevölkerung erstmals verstanden hat, was Logistik bedeutet. Man merkte, dass Ware nicht immer verfügbar ist und diese irgendwie in den Laden kommen muss und es dazu viele verschiedene Komponenten braucht. Das hilft uns vielleicht in der Zukunft, die Mitarbeitenden zu finden, die wir benötigen. Dazu haben alle Logistikverbände eine Ausstellung im Verkehrshaus Luzern realisiert, um den Nachwuchs für die Logistik zu begeistern. Was wir in der Schweiz in der Logistik momentan sehen, ist, dass wieder mehr Produktion zurückkommt. Es wird auch vielleicht für unseren Staat wieder sinnvoll sein, gewisse Produkte an Lager zu legen, die uns gefehlt haben. Das heisst, die ganze Kreislaufwirtschaft verändert sich momentan. Wenn das passiert, braucht es auch mehr Lager. Die Arbeit wird uns daher nicht ausgehen. Die Lager werden sich aber auch verändern. Das heisst, die Stapler werden intelligenter, wir werden mehr selbstfahrende Fahrzeuge sehen, und wir werden auch Roboter haben, die selbstfahrend sind. Heute muss die Ware noch zum Roboter gebracht werden, der stationär ist und die Aufträge abarbeitet. In Zukunft wird der Roboter dorthin fahren, wo die Arbeit ist.

Besten Dank für das Gespräch.

in Kooperation mit ASTAG und INOVERIS

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Jürgen Wirtz

Chefredakteur Schaltschrankbau

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